Die GRUNDHALTUNG des Pädagogen in der Montessori-Pädagogik
Silke AllmannEinleitung
Als Dozenten1 setzen wir uns bei Aus-, Weiter- und Fortbildungen ständig und sehr intensiv mit dem Montessori-Pädagogen und seinen Aufgaben, also mit seiner Rolle, auseinander. Das Thema ist ein „Dauerbrenner“ unserer Bemühungen. Und genau in diesen, meinen ersten Sätzen steckt schon die Besonderheit unserer Auseinandersetzung:
Der Pädagoge und seine Grundhaltung ist in der Montessori-Pädagogik nicht einfach nur ein Thema. Es geht nicht lediglich um eine Rolle und um Aufgaben, sondern es geht um viel mehr, viel Tiefgründigeres. Es geht um seine Person, besser um seine Persönlichkeit, um seine Einstellung sich selbst gegenüber und gegenüber dem Kind.
Wie oft mühen wir uns in den Basis-Diplomlehrgängen und Zertifikatskursen damit ab, bei kritischen, sehr wissbegierigen Fragen der Teilnehmer genau das zu vermitteln, was so schwer in Worte zu fassen ist, weil es eben nicht nur um eine Aufgabenliste geht, die durchgegangen, die durchnummeriert per Handout ausgegeben und dann abgerufen werden kann.
Sondern: Es sind Fragen, die uns in unserem Innern bewegen, uns in Gang setzen und halten, uns aufwühlen, unsere Gefühlswelt mit ins Spiel bringen.
Warum ist das so? Weil es eben nicht nur um Kriterien und Prozesse geht, die aufgelistet werden können, sondern weil es sich hierbei um eine Haltung handelt, die beschrieben, erklärt, erläutert werden muss. Bei unseren Beschreibungen streben wir danach, etwas bei den Teilnehmern anzuregen, was – vielleicht im Verborgenen – schon vorhanden ist, aber in der Gesamtpersönlichkeit zum Vorschein kommen und professionell gelebt werden muss, also um gelebte Montessori-Pädagogik. Hier geht es um die Darstellung der eigenen Einstellung, der eigenen Grundhaltung, die so schwer ist, einem anderen einfach zu vermitteln. Wir greifen hier so oft, und das hat auch Maria Montessori getan, auf Beispiele aus der Praxis zurück.
Diese Beispiele sollen helfen zu erläutern, was und besonders wer ein Montessori-Pädagoge ist.
1 Der einfachen Lesbarkeit geschuldet verwendet die Verfasserin lediglich die maskuline Form, meint aber auch gleichzeitig die feminine Form.
Eine zweite wichtige Hürde stellt nicht minder dann auch die Förderung von Verstehensprozessen bei den Lehrgangs- und Kursteilnehmern dar und letztendlich die Einsicht, dass es sich hierbei um eine lebenslange Entwicklung der eigenen Pädagogen- Persönlichkeit handelt und nicht nur um ein Thema, das abgearbeitet werden kann.
Ich möchte mich also unter drei „Vorzeichen“ mit dem mir anvertrauten Vortrag2 heute beschäftigen:
- Wer ist ein Montessori-Pädagoge?
- Wie versucht ein Montessori-Pädagoge, einem Kind und seiner Entwicklung gerecht zu werden?
- Und: Wie dynamisch muss dieser eigene, individuelle, professionelle Entwicklungsprozess bleiben?
Wer könnte mir zu diesen Fragen besser Auskunft geben, als Maria Montessori selbst?
1. Der Montessori-Pädagoge ist aktiv und verwickelt
Im Jahr 1946 äußert sich Maria Montessori folgendermaßen:
Der Montessori-Pädagoge ist „aktiv“ und „verwickelt“ (Montessori 2009, S. 104; vgl. auch Montessori 1998, S. 138-142).
Was bedeutet dies? Er muss „verwickelt“ sein? Montessori hier auch wieder selbst:
„Eine normale Lehrerin kann nicht in eine Montessori-Lehrerin umgewandelt, sondern sie muss neu geschaffen werden, nachdem sie sich von pädagogischen Vorurteilen befreit hat“ (Montessori 2009, S. 104/105).
Das heißt also für uns, dass wir den Lehrgangs- und Kursteilnehmern zunächst einmal verdeutlichen sollten, dass das Denken über das Kind grundlegend anders ist. Und hier kommen wir ganz schnell an einen Punkt, der auf Widerstand stoßen kann und in der Regel auch tatsächlich stößt: das Überdenken des gesamten bisherigen eigenen Denkens und Handelns. Ein ganz schwieriges Unterfangen, denn „alte“ Verhaltens- und Denkmuster müssen vom Grunde her reflektiert werden. Die ureigenen inneren – ich nenne sie einmal –
„Maßstäbe“ stehen zur Diskussion. Die Teilnehmer reagieren dann – zu Recht – erst einmal sehr irritiert und stellen sich die Fragen „Ist denn das, was ich bisher in bester Absicht gemacht habe, alles falsch gewesen? Muss ich mich jetzt vollkommen umstellen?“ Ein unter Umständen sehr schmerzhafter Prozess, der sehr viel Zeit und sehr viel Einfühlungsvermögen auf Seiten der Dozenten braucht, soll er in Achtung vor der Persönlichkeit der Teilnehmer gelingen.
2 Dieser Vortrag wurde am 3. September 2016 bei der Dozentenkonferenz West der Deutschen Montessori- Vereinigung in Köln gehalten.
2. Der Montessori-Pädagoge braucht Vorstellungskraft
Maria Montessori meint:
„Der erste Schritt dazu ist die Selbstvorbereitung der Vorstellungskraft, denn die Montessori- Lehrerin muss sich ein Kind vor Augen führen, das noch gar nicht da ist (grob gesprochen) – sie muss Vertrauen haben in das Kind, das sich durch seine Tätigkeit offenbaren wird“ (Montessori 2009, S. 105).
Der Montessori-Pädagoge weiß also um die kindlichen Potentiale, um seine Kräfte, die es bei seiner Geburt mitbringt und schenkt der „Macht“ dieser Potentiale Vertrauen, die da sind: Intelligenz, Wille, Motivation, Sprache, Religiosität, Charakter, Reflexionsfähigkeit. Und ferner auch – und nicht minder bedeutsam – der Entwicklungskraft des einzelnen Kindes wird uneingeschränkt vertraut. Wie oft fragen mich Lehrgangs- und Kursteilnehmer „Aber was mache ich, wenn ein Kind einfach nicht arbeiten will?“, „Was muss ich nach Montessori unternehmen, wenn ein Kind die ,falschen´ Materialien nimmt?“, „Wie führe ich ein Kind an das ,richtige´ Material heran?“, „Was muss ich tun?“. In diesen Fragen steckt der `Trugschluss´.
Dazu Maria Montessori wieder:
„Die verschiedenen Arten abweichender Kinder erschüttern nicht den Glauben dieser Lehrerin, die eine andere Art von Kind im seelischen Bereich erschaut und zuversichtlich auf das Hervortreten dieses Wesens wartet, wenn es sich einmal durch interessante Beschäftigung angezogen fühlt. Sie wartet darauf, dass die Kinder Anzeichen von Konzentration zeigen“ (Montessori 2009, S. 105).
Die eigene Ungeduld, das eigene Unbehagen muss ein Montessori-Pädagoge also kontrollieren können. Besser noch: Es tritt am besten – wegen des uneingeschränkten Vertrauens in die Entwicklungskraft des Kindes – gar nicht erst auf. Wie schwer das ist, brauchen wir den Praktikern nicht zu erklären. Selbst erfahrene Montessori-Pädagogen müssen hieran beständig arbeiten, sich nicht von alltäglichen Druckmechanismen wie Zeit, Bedingungen, Ansprüchen, die ja von außen, aber auch aus dem eigenen Inneren heraus entstehen, nicht einholen, gar einfangen zu lassen.
Ein zweites sehr wichtiges Moment spricht Maria Montessori hier an: Ich muss als Montessori-Pädagoge fundierte Kenntnisse um das Wesen des Kindes haben. Es gibt also Wesenszüge des eigentlichen Kindes, die zwar noch nicht oder lediglich in Ansätzen hervorgetreten sind, die ich gemäß der Montessori-Entwicklungspädagogik kennen muss, um deren Entwicklungsmöglichkeit ich mich beständig bemühen muss, die ich fest in den Blick nehmen muss, nicht aus den Augen verlieren darf, auch wenn die eigenen und/oder fremden Vorstellungen und Erwartungen noch so hoch sind. Der Montessori-Pädagoge muss also sein Hauptaugenmerk auf das Kind und seinen Entwicklungsweg zur Normalisation legen – mit allen Unwägbarkeiten der täglichen Schwierigkeiten und Hürden. Er muss sensibel Anzeichen von Interesse wahrnehmen und erkennen können. Und genau hier ist er dann gefragt: Jetzt kommt der Montessori-Pädagoge quasi „zum Einsatz“! Das tragende Moment ist hierbei, das Kind genau dort abzuholen, wo es steht – mit allen Konsequenzen: die richtige Übung darzubringen und somit eine ´Brücke` zwischen dem Kind und der Welt zu sein.
3. Der Montessori-Pädagoge ist die Brücke zwischen dem Kind und seiner Normalisation
In diesem Zusammenhang erhalten die Forderungen Montessoris von 1916 nach der „Schaukraft der Lehrerin“3, nach ihrer Fähigkeit, „das innere Leben des Menschen“ zu beobachten einen ganz neuen Stellenwert innerhalb des eigenen professionellen Profils (Montessori 1976, S. 131). Der Montessori-Pädagoge ist zugleich – wie sagt Montessori? – Wissenschaftler und Heiliger (vgl. Montessori 1976, S. 131). Eine für die Lehrgangs- und Kursteilnehmer befremdliche Aussage, die einer Erklärung bedarf: Der Montessori-Pädagoge muss so exakt, also so genau, wie der Wissenschaftler bei seinen Beobachtungen und Auswertungen der Daten und so geistig, also so demütig, vertrauensvoll und liebevoll, wie der Heilige sein.
Montessori selbst beschreibt den Entwicklungsweg des Montessori-Pädagogen in seiner Brückenfunktion zwischen Kind und Welt, zwischen Kind und Sache, zwischen Kind und Konzentration und somit Normalisation4:
3 Vgl. auch Allmann 2014, S. 20-29
4 Die folgend dargestellten drei Entwicklungsschritte erinnern ein wenig auf die Entwicklungsstufen in Pestalozzis pädagogischem Ansatz der sittlichen Erziehung. Vgl. dazu Pestalozzi 1997 (Stanser Brief) mit einer vorzüglichen Interpretation von Wolfgang Klafki: Hierbei geht es darum, die Kinder zu einem sittlichen Denken und Handeln anzuleiten, indem(bitte in dieser Reihenfolge; nicht in der oft genannten Reihenfolge Mit Kopf, Herz und Hand) Herz, Kopf und Hand geweitet bzw. bewusst bzw. tätig werden.
a. Zunächst ist er „Hüter und Wächter der Umgebung“ (Montessori 2009, 105). Die Heilung des – so sagt Montessori – Problemkindes kommt aus der Umgebung. „Hier liegt die Anziehungskraft, welche den Willen des Kindes polarisieren wird“ (Montessori 2009, S. 105). Mit der Umgebung sind nicht ausschließlich Raum und Material gemeint, sondern eben auch der Pädagoge selbst. Alles soll anziehend sein. Die Gesamtpersönlichkeit des Pädagogen soll Ruhe, Kraft, Interesse, Motivation und Freundlichkeit ausstrahlen. Die eigenen Bewegungen sollten nicht unüberlegt sein, sondern er muss sich beständig bewusst sein, dass ein Kind ihn beobachtet, er auf das Kind wirkt – und zwar vom Moment der ersten bis zum Moment der letzten Begegnung mit ihm.
b. Als Zweites muss der Montessori-Pädagoge die Aufmerksamkeit des Kindes erregen, sie anlocken. Er muss sich mit den Kindern befassen. Auf dieser Entwicklungsstufe muss der Pädagoge durch Fröhlichkeit bestechen.
c. Montessori betont weiter:
„Ist einmal die Anteilnahme der Kinder geweckt, gewöhnlich durch irgendeine Übung aus dem praktischen Leben (da das Material noch keine geeigneten Bedingungen für seine Darbietung hat), zieht sich die Lehrerin in den Hintergrund zurück und muss sich sehr sorgfältig jeder Einmischung enthalten – absolut und auf jede Weise“ (Montessori 2009, S. 106).
Der Montessori-Pädagoge soll sich also entbehrlich5 machen, das ist das Geheimnis seines Erfolges. Montessori selbst:
„Gesegnet sind die Lehrerinnen, die ihre Klasse auf eine Entwicklungsstufe gebracht haben, wo sie sagen können: ,Ob ich anwesend bin oder nicht, die Klasse macht weiter. Die Gruppe hat Unabhängigkeit erlangt.´“ (Montessori 2009, S. 104).
Maria Montessori verweist hier auf zwei wichtige Aspekte ihrer Pädagogik:
Einmal ist es der Aspekt der Bindung des Kindes an eine Sache, ohne dazu motiviert werden zu müssen. Es ist der Prozess der Normalisierung, der sich mit dem ersten Erlebnis der Polarisation der Aufmerksamkeit in Gang setzt und durch die Wiederholung dieses Erlebnisses zu einer echten Erfahrung für den Heranwachsenden wird, die in eine tiefe Konzentrationsfähigkeit mündet. Diese Fähigkeit wiederum führt zur Veränderung der kindlichen Gesamtpersönlichkeit: Das Kind benötigt nicht den Pädagogen, der es antreibt, der es motiviert, der ihm etwas bei-bringt, sondern der für seine neue Offenheit, für sein Mitteilungsbedürfnis, für seine Sozialität ein offenes Ohr hat, der da ist, wenn er gebraucht wird und sich ihm nicht aufdrängt.
5 Der dem Vortrag anschließende Austausch mit den Zuhörern am 03.09.16 ergab als wichtigen zusätzlichen Punkt: Der Montessori-Pädagoge soll sich zwar entbehrlich machen, aber er ist keineswegs austauschbar.
Und an diesem Punkt sei der zweite Aspekt genannt, der des Weges zur Unabhängigkeit. Sich entbehrlich machen heißt, Kinder selbsttätig sein zu lassen, ihnen Möglichkeiten der Selbstständigkeit zu eröffnen und letztendlich den Weg zur kindlichen Unabhängigkeit zu ebnen, indem der Pädagoge sich selbst kritisch hinterfragt, welche Menschen um es herum es daran hindern. Vielleicht sogar er selbst?
„Wir müssen dem Kind dabei helfen, selbst zu handeln, selbst zu wollen, selbst zu denken: das ist die Kunst derer, die danach streben, dem Geist zu dienen. Es ist die Freude der Lehrerin, die Offenbarungen des Geistes zu begrüßen, die ihren Glauben beantworten. Hier ist das Kind so, wie es sein sollte: der Arbeiter, der nie ermüdet, das gelassene Kind, das nach einem Höchstmaß an Anstrengung trachtet, das den Schwachen zu helfen versucht, während es die Unabhängigkeit der anderen zu achten weiß – in Wahrheit das echte Kind“ (Montessori 2009, S. 107).
Zu diesen Ausführungen Montessoris möchte ich ein kleines Beispiel aus meiner eigenen Praxis als Klassenlehrerin anbringen: Martin – ich nenne ihn jetzt einmal so -, ein Zweitklässler, sitzt Kopf an Kopf mit Aisha an einem Tisch. Beide haben sich Material zur Rechtschreibung genommen. Ich beobachte sie. Ich höre, wie Aisha eine Wortkarte mit dem Begriff „Hintern“ Martin vorliest, schön langsam, damit der Junge das Wort auch gut analysieren kann. Martin wiederholt das Wort ein Mal, zwei Mal, drei Mal, hält seinen Bleistift nachdenklich an den Mund und schaut angestrengt an die Raumdecke. Aisha wiederholt das Wort nochmals. Martin geht darauf ein und spricht es jetzt betont langsam aus, vor allem am Wortende. Es ist offensichtlich, dass er sich nicht sicher ist, wie „Hintern“ am Ende geschrieben wird. Ich höre und schaue genau hin und bin gespannt, was nun passiert.
Das Ganze dauert mehrere Minuten. Irgendwann macht Martin einen Schnipp mit seinen Fingern und sagt laut und ganz selbstbewusst zu Aisha: „Weißt Du was? Ich schreibe einfach Popo!“ Bei dieser Kundgebung konnte ich mir ein lautes Lachen nicht mehr verkneifen.
Was lässt sich aus diesem Beispiel für uns erschließen, im Hinblick auf den Pädagogen, der Kinder zur Unabhängigkeit führen möchte? Er muss geduldig beobachten, muss abwarten können, muss die geschickten, gar kreativen Lösungswege des Kindes erkennen können, muss Hochachtung vor der geistigen Tätigkeit des Kindes haben.
Maria Montessori betont ebenso:
„Weil sie [die Lehrerin; Anm. d. Verf.] das Geheimnis des Kindes kennt, ist sie von tiefer Liebe zu ihm erfüllt und versteht vielleicht zum ersten Mal, was Liebe wirklich bedeutet. Sie bewegt sich auf einer anderen Ebene als die persönliche Liebe, die sich in Liebkosungen [und Anerkennungsverhältnissen; Anm. d. Verf.] äußert. Der Unterschied ist von den Kindern zustande gebracht worden, die durch Offenbarung ihres Geistes ihre Lehrerin tief bewegt und sie auf eine Ebene geführt haben, von deren Dasein sie nichts geahnt hatte – jetzt ist sie dort, und sie ist glücklich“ (Montessori 2009, S. 107).
4. Der Montessori-Pädagoge ist authentisch
Der Montessori-Pädagoge durchläuft also eine intensive Entwicklung, die eine innere Veränderung meint. Herkömmliche Erfahrungen und Strukturen verlieren in der jeweiligen pädagogischen Situation ihre prägnante Bedeutung, sondern sind allerhöchstens Handlungsinstrumente. Das Kind als Lehrmeister6 wahrzunehmen und anzuerkennen ist oberstes Handlungsprinzip des Montessori-Pädagogen. Sein Selbst entwickelt sich dadurch weiter und er verändert/verwandelt sich. Er muss jemand sein, der – Wie machte Hildegard Amelunxen während der Studienkonferenz der Deutschen Montessori-Vereinigung im Jahr 2015 in ihrer Arbeitsgemeinschaft mit dem Thema „Der veränderte Erzieher“ deutlich? – authentisch ist, sich selbst also treu bleibt, aber eben sich gleichzeitig auch kritisch hinterfragt und beständig prüft, ob er die Bedürfnisse des Kindes (noch) fest im Blick behält und sich nicht von äußeren Belangen daran hindern lässt. Er muss sich klar werden über sein eigenes So-Sein, über sein eigenes Handeln, über seine eigenen Stärken und Schwächen. Er stellt sich selbst die Fragen: Was macht mich aus? Was macht mein eigenes Leben aus? Warum bin ich der, der ich bin? Was macht mich aus – auch in meinem Beruf? Warum habe ich diesen Beruf ergriffen?
Aus diesen Fragen ergibt sich dann wiederum die Konsequenz, dass er sich selbst immer besser kennen lernt und erkennt. Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten schrecken ihn nicht ab, sondern sind Prüfstellen für seine Willenskraft, sein Durchhaltevermögen und seine Verantwortungsbereitschaft sich selbst und dem Kind gegenüber.
6 Vgl. Montessori 1923/24, zit. in: MONTESSORI 50/2, S. 8-14
So macht Anna Freud (1895-1982), die jüngste Tochter Sigmund Freuds, die übrigens auch zu Maria Montessori Kontakt und sich das eine oder andere Mal mit ihr ausgetauscht haben soll – laut eines Briefes von Sigmund Freud an Maria Montessori vom 20. Dezember 19277 sogar zu Montessoris Anhängern zählte –, auf einen spezifischen Aspekt von Authentizität seit Mitte der 1930er Jahre in ihren Vorträgen besonders vor Pädagogen aufmerksam. Sie fordert von ihnen, sich dem Kind zuzuwenden und nicht das Kind dazu zu missbrauchen, eigene Ängste und Krisen an ihnen auszulassen bzw. sich an ihnen ´abzuarbeiten` (vgl. z. B. Freud 1971; Freud 1995).
7 Dieser Brief ist zwar knapp gehalten, aber sehr aussagekräftig. Er zeigt eine Verbundenheit und Sympathie mit Montessori und Freuds Hochachtung ihr gegenüber:
„Verehrteste Frau. Ich habe mich ungemein gefreut, einen Brief von Ihnen zu erhalten. Von jeher mit dem Studium der kindlichen Seele beschäftigt, bringe ich Ihren ebenso menschenfreundlichen wie verständnisvollen Bestrebungen große Sympathie entgegen, und meine Tochter [Anna; Anm. d. Verf.], die analytische Pädagogin ist, zählt sich zu Ihren Anhängern. Ich bin sehr gern bereit, den Aufruf zur Gründung eines kleinen Instituts … neben Ihnen zu unterschreiben. Der Widerstand, den mein Name beim Publikum erwecken könnte, muß durch den Glanz, der von Ihrem Namen ausstrahlt, überwältigt werden“ (Freud 1927, zit. in: Peters 1979, S. 109).
5. Der Montessori-Pädagoge ist vertrauensvoll, würdig und reif
Was macht also nach Maria Montessori einen Montessori-Pädagogen aus? Oder, um auf meine anfänglich formulierten Fragen zurückzukommen: Wer ist ein Montessori-Pädagoge? Wie versucht ein Montessori-Pädagoge, einem Kind und seiner Entwicklung gerecht zu werden? Wie dynamisch muss dieser eigene, individuelle, professionelle Entwicklungsprozess bleiben?
Maria Montessori bringt es in einem Kursvortrag aus dem Jahr 1946 in London auf den Punkt: Die Kinder müssen Vertrauen zu ihm haben; er muss würdig und reif sein (vgl. Montessori 1989, S. 108 f.).
„Wenn keine Autorität für sie da ist, so haben die Kinder keine Orientierung. Die Kinder brauchen diese Stütze. … Die Kinder müssen sich dem Material zuwenden“ (Montessori 1989, S. 108 f.).
Der Montessori-Pädagoge achtet also in besonderem Maße darauf, dass er sich selbst und das Kind und dessen Entwicklungsweg verstehen lernt. Das kann er jedoch nur, wenn er gelernt hat, dass Entwicklung – und zwar auch die eigene – ein anhaltender Prozess ist, der ihn selbst zu einer pädagogischen Persönlichkeit reifen lässt.8
Anna Freud hat 1976 für die im Jahr 1977 erschienene Montessori-Biographie Rita Kramers das Vorwort verfasst. Hier schreibt sie: „Als Zeitgenossin Maria Montessoris und ihrer Mitarbeit kann ich aus eigener Erfahrung den in diesem Buch geschilderten dankbaren Enthusiasmus bestätigen. …, daß in einem >Montessori-Haus< der Kinder (wie in dem in Wien geschaffenen) das Kind zum erstenmal Herr war im eigenen Haus; zum erstenmal sein Interesse an dem vorhandenen Material frei entfalten konnte …“ (Freud 1976, Vorwort).
Silke Allmann
Dr. phil., Dipl. Pädagogin, Grund- und Hauptschullehrerin, akademische Oberrätin im Institut Pädagogik, Arbeitsbereich Allgemeine Pädagogik an der Universität Koblenz- Landau, Campus Koblenz, Theorie-Dozentin der Deutschen Montessori-Vereinigung, Mitglied des Vorstandes der DMV und Schriftleiterin der Zeitschrift für Montessori- Pädagogik „MONTESSORI“ (geneinsam mit Michael Klein-Landeck)
Forschungsschwerpunkte: Reformpädagogische Erziehungs- und Bildungsansätze, Biographieforschung, Zeitzeugenforschung, qualitative Beobachtung, Beratungsansätze, Hochschuldidaktik, strukturale Hermeneutik
Literatur
ALLMANN, SILKE (2014): Beobachtung in der Montessori-Pädagogik. Einführung in Theorie und Praxis. Freiburg, Basel und Wien
FREUD, ANNA (1935; 1971): Psychoanalyse für Pädagogen. Eine Einführung. Bern
FREUD, ANNA (1976): Vorwort. In: Kramer, Rita (1977): Maria Montessori. Leben und Werk einer großen Frau. München
FREUD, ANNA (1927; 1995): Einführung in die Technik der Kinderanalyse. 7., neugestaltete Auflage, München und Basel
MONTESSORI, MARIA (1976): Schule des Kindes. Freiburg
MONTESSORI, MARIA (1946; 1989): Die Konzentration und die Erzieherin. In: Montessori, Maria: Die Macht der Schwachen. Freiburg, S. 101-109
MONTESSORI, MARIA (1946; 1998): Erziehung für eine neue Welt. Band 5 der Kleinen Schriften Maria Montessoris. Freiburg (siehe auch: Oswald, Paul/Schulz-Benesch, Günter (2009; Hrsg.): Grundgedanken der Montessori-Pädagogik. Quellentexte und Praxisberichte. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Freiburg, Basel und Wien, S. 104-107)
8 Wie in Fußnote 5 bereits erläutert erfolgte im Anschluss an den Vortrag ein Austausch mit den Zuhörern. Eine zweite wichtige Anmerkung der Zuhörer möchte ich den Lesern dieses Beitrages mit auf den Weg geben: Dieser individuelle Entwicklungsweg zum Montessori-Pädagogen muss stets sowohl vom Kollegenteam wie auch von der Leitung einer Einrichtung gestützt und gefördert werden.
MONTESSORI, MARIA (1916; 2009): Die „Schaukraft“ der Lehrerin.
In: Oswald, Paul/Schulz-Benesch, Günter (Hrsg.): Grundgedanken der Montessori-Pädagogik. Quellentexte und Praxisberichte. 2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Freiburg, Basel und Wien, S. 54/55
MONTESSORI, MARIA (1923/24; 2012): Die Beobachtung sehr kleiner Kinder. In: MONTESSORI. Zeitschrift für Montessori-Pädagogik 50/2, S. 8-14
PESTALOZZI, JOHANN HEINRICH (1799; 1997): Brief an einen Freund über den Aufenthalt in Stans. Mi einer Interpretation und neuer Einleitung von Wolfgang Klafki. 7. Auflage, Weinheim und Basel
PETERS, UWE HENRIK (1979): Anna Freud. Ein Leben für das Kind. München