Leistungserziehung

Was bedeutet Leistung? – Gesellschaftlich oder pädagogisch betrachtet

Spätestens seit dem Bekanntwerden der PISA-Ergebnisse im Jahr 2000 hat die Debatte um Leistung und Leistungserziehung besonders in Deutschland eine progressive Renaissance erfahren. Nicht nur Experten, wie Erziehungswissenschaftler, Pädagogen und Schuldidaktiker, sondern auch Populärwissenschaftler, Politiker und Vertreter aus der Wirtschaft nehmen sich dieses Themas intensiv an und verschärfen mitunter die Diskussion um die Beurteilung und Bewertung von Leistungen, auch und gerade im Schulbereich.

Leistung ist stets kohärent mit den Erwartungen einer Personengruppe an den Beitrag eines Einzelnen zum Wohl, zum Fortschritt, zum Erfolg der Allgemeinheit, also mit den Erwartungen einer Gesellschaft an seine Bürger, eines Vorgesetzten an seinen Angestellten, eines Pädagogen an die heranwachsenden Kinder.

Der gesellschaftliche, normorientierte Leistungsbegriff ist darauf ausgerichtet, Kenntnisse, Leistungsvermögen und Anstrengung zum Wohle der Allgemeinheit – sei es auf sozialer, politischer oder ökonomischer Ebene – miteinander zu verknüpfen und effektiv, gewinnbringend, zielorientiert umzusetzen.
Von diesem gesellschaftlich-normativen Leistungsbegriff unterscheidet sich ein Verständnis von Leistung im pädagogischen Feld, denn hier geht es weniger um das Ziel, das erreicht werden soll, denn um den Weg, den Prozess, den ein Individuum auf der Basis seines eigenen Vermögens, Könnens und seiner Motivation durchläuft, um sich weiterzuentwickeln und letztendlich zu lernen. Leistung im pädagogischen Sinne impliziert stets die Interessen und Fähigkeiten, die das einzelne Kind mitbringt auf der einen Seite und auf der anderen Seite, wie es dabei unterstützt wird, seine Interessen und Stärken auszubauen und seine Fähigkeiten zu erweitern. (1)
Damit ist Motivation ein überaus wichtiges, sinnstiftendes Moment für eine gesunde
Leistungsentwicklung. Kinder bringen von sich aus spezifische Interessen für ihre eigenen
Themen mit, allerdings kommt es nun im pädagogischen Feld darauf an, ob diesen Interessen, Bedürfnissen, Fähigkeiten nachgekommen wird. Wie sieht das Angebot für die Kinder aus? Wie versucht die jeweilige Institution auf die Stärken des einzelnen Kindes einzugehen? Wie werden sie gefördert? Oder wie werden noch schlummernde Fähigkeiten entdeckt und weiterentwickelt? Wie können Kinder und Jugendliche dazu ermutigt werden, sich an Neues heranzuwagen und bei der Sache zu bleiben?

(1) Meyer, Hilbert (2004): Was ist guter Unterricht?, S. 113

Leistungserziehung bei Maria Montessori vor dem Hintergrund ihres Kindbildes

Betrachtet man zunächst ihre eigene Vita, so steht die Person Maria Montessori selbst für ein leistungsstarkes Gestalten eines erfüllten Lebens.

Geäußert hat sich Maria Montessori zum Leistungsbegriff nicht explizit (2). Allerdings stehen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft in engem Zusammenhang zu ihrem Arbeitsbegriff (3). Der dem Kind innewohnende, angeborene Arbeitsinstinkt bzw. -trieb generiert im Besonderen seinen Willen zur Leistung, somit zur Selbst- und Welteroberung und vor allem die damit verbundene Verantwortung für sich selbst, für andere und für die Schöpfung. Dieser Leistungswille wird gespeist aus einer dem Kind eigenen Motivation, sich beständig weiterzuentwickeln, unabhängig und selbstständig zu werden. So verzichtet die Montessori-Pädagogik auf ein Arbeitsbündnis zwischen Kindern und Erwachsenen, das auf Druck und ständigem Antreiben zur Arbeit aufbaut, und vertraut dem kindlichen Arbeitsinstinkt und dem damit verbundenen Leistungswillen.

Die Montessori-Pädagogik gibt auf spezifische Fragen zur Leistungserziehung ihre eigenen Antworten im Hinblick auf folgende Ebenen:

  1. individuelle Ebene: intrinsische Motivation durch die Arbeit am immanenten, subjektiven Bauplan
  2. institutionelle Ebene: Angebot an didaktischem Material in der vorbereiteten Umgebung
  3. professionelle Ebene: Pädagogen als Experten im Bereich der Beobachtung.

Die oben dargestellten Ebenen sind in ihrer Reihenfolge nicht zufällig gewählt. Zuerst kommt das Kind, das im Kontext des reformpädagogischen Ansatzes Maria Montessoris im Mittelpunkt aller Betrachtungen steht und gefördert und gefordert werden muss. Die Konzeption Montessoris hebt eindeutig die Bedeutung des Kindes in der Verantwortung für seine eigene Entwicklung hervor: Jedes Kind hat sozusagen einen wachsamen Lehrmeister in sich …(4). Ein Kind kann nur so viel leisten, arbeiten, wie Montessori es nennt (5), wie sein immanenter Bauplan es zulässt. In diesen Bauplan können Erwachsene nicht direkt eindringen, sondern sie können allerhöchstens an dessen Peripherie unterstützend, aber auch schädigend einwirken. Aus dem o. g. Bauplan ergibt sich dann auch zweierlei, zum einen die Eigenmotivation des Kindes, neugierig zu sein, etwas zu entdecken, und zum anderen ein scheinbar unstillbares Verlangen zu arbeiten und unabhängig zu werden vom Erwachsenen. Diese kindliche Arbeit beschreibt Montessori sehr anschaulich in ihrem Spätwerk Kinder sind anders, indem sie dem Arbeitsinstinkt des Kindes das zweckrationale, zielgerichtete Arbeiten des Erwachsenen gegenüberstellt und somit die Grundlage und die Notwendigkeit für einen pädagogischen Leistungsbegriff geradezu unumgänglich macht, wenn es darum geht, Kinder sinnvoll und entwicklungsgemäß zu fördern.

Die Montessori-Pädagogik bietet dem Heranwachsenden eine spezifisch aufgebaute
Lernumgebung an, die nicht zufällig oder nach Vorlieben eines einzelnen Pädagogen gestaltet wird, sondern, die auf einem ausgeklügelten System didaktischer Entwicklungsmaterialien aufbauen. Diese vorbereitete Umgebung schließt drei Felder mit ein: das Material, den Raum und den Pädagogen. Alle drei Faktoren bedingen sich gegenseitig und bilden eine Einheit. Dieses Lernangebot der vorbereiteten Umgebung wird den Kindern während langer Phasen der Freiarbeit zur Verfügung gestellt, wobei der individuelle Umgang mit den Materialien beständig von dem Pädagogen beobachtet und dokumentiert werden muss. Ein traditionelles Bewertungs- und Beurteilungssystem scheint hier mitunter nur problembehaftet einsetzbar, da es die Leistungen des einzelnen Kindes normativ und nicht individuell berücksichtigt. Deshalb ist es notwendig, zu dem bisherigen Notensystem, das auf Messen und Vergleich von Leistung beruht, weitere Bewertungsarrangements zur Verfügung zu stellen, die auf Verstehen und Individualität ausgelegt sind.

(2) Vgl. u. a. Bohl, Thorsten (2005): Leistungsbeurteilung in der Reformpädagogik – Analyse und Gehalt der Beurteilungskonzeptionen, S. 50
(3) Vgl. Ludwig, Harald et al. (2001): Leistungserziehung und Montessori-Pädagogik, S. 10
(4) Montessori, Maria (1989): Das kreative Kind, S. 4
(5) Vgl. dazu die Ausführungen Montessoris zur Arbeit des Erwachsenen und zur kindlichen Arbeit in: Montessori, Maria (1987): Kinder sind anders, S. 192-201

Leistungsbeurteilung und -bewertung in der Montessori-Schule

Insofern entsteht ein unlösbares Spannungsverhältnis für die schulischen Akteure: Wie kann der aus Erwachsenen-Perspektive entworfene gesellschaftliche Leistungsbegriff mit dem aus Kinder-Perspektive entstandene pädagogische Leistungsbegriff miteinander vereinbart werden? Dieses Spannungsverhältnis scheint unlösbar, muss aber aus schuladministrativer Sicht gelöst werden, da der gesellschaftliche Auftrag der Schulen explizit feststeht.

An dieser Stelle können vor allem drei Aspekte hinsichtlich der Bedeutung des Ziffernnoten-Zeugnisses herausgearbeitet werden. Es gilt u. a. als
1. Kommunikationsgrundlage für Lehrer, Schüler und Eltern,
2. Empfehlungsgrundlage für die weitere Schülerbiographie,
3. Anpassungsgrundlage für gesellschaftliche Rollenerwartungen.

Dahingegen ist besonders zu betonen, dass die individuelle Beurteilungskompetenz eines Kindes hoch ist. Kinder wissen, was sie können! Sie benötigen keine gesellschaftliche Norm, um sich selbst realistisch in ihrer Leistung einschätzen zu können.

Ein eigenes Bewertungsnetz zur Freiarbeit, das auf der Grundlage eines pädagogischen Leistungsbegriffs entworfen werden kann, baut auf drei Bausteinen auf (6):

Welche Bewertungskriterien, welche Bewertungsmaßstäbe können hier zum Einsatz kommen?
Zum einen gibt es da das traditionelle, an der Norm des Unterrichts (hier: anforderungsbezogen) und an der Norm der Lerngruppe ausgerichtete Zensurensystem (hier: sozial vergleichend), zum anderen orientiert sich die Einschätzung der kindlichen Leistung an seinem individuellen Entwicklungs- und Lernfortschritt (hier: individuell). Eigens dafür entwickelte Beobachtungsbögen können den individuellen Entwicklungsprozess des Kindes dokumentieren, ebenso wie Tagebücher oder die erprobten und etablierten Pensenbücher. Kindliche Produkte aller Art sowie Präsentationen werden traditionell benotet.

(6) Vgl. dazu: Arbeitspapier des Kölner Schulleiter-Teams (Arbeitsgruppe: U. Burgmer, J. Elsner und M. Gerhards-Bednorz); Fremerey (2007/08): Konzept der Leistungsmessung und Leistungsbeurteilung für die Montessori-Schule Bonn (unveröffentlicht)

Montessori-Schulen im Vergleich zu Regelschulen

Im Allgemeinen ist ausdrücklich zu betonen, dass in allen Montessori-Einrichtungen Leistung erbracht werden muss. Zu diesem Thema geben die entsprechenden Institutionen gerne Informationen weiter.

Bei der nationalen Lernstanderhebung VERA 2004 haben die Viertklässler der zwölf nordrhein-westfälischen Montessori-Schulen im Vergleich zu den Viertklässlern der Regelschulen Nordrhein-Westfalens überdurchschnittlich hohe Leistungen erbracht (7), vor allem im Bereich Mathematik.

(7) Vgl. Suffenplan, Wilhelm (2006): Die Lernstandergebnisse von VERA 2004 bei Montessori-Schulen und Montessori-Schulzweigen Nordrhein-Westfalens. In: MONTESSORI 44, Heft 1/2, S. 18-60 ; vgl. auch Ludwig, Harald: Montessori-Pädagogik im Spiegel aktueller empirischer Forschung (Vortrag vor der DGfE am 18.03.2008), S. 5 ff

Silke Allmann
Dr. phil., Dipl. Pädagogin, Grund- und Hauptschullehrerin, akademische Oberrätin im Institut Pädagogik, Arbeitsbereich Allgemeine Pädagogik an der Universität Koblenz- Landau, Campus Koblenz, Theorie-Dozentin der Deutschen Montessori-Vereinigung, Mitglied des Vorstandes der DMV und Schriftleiterin der Zeitschrift für Montessori- Pädagogik „MONTESSORI“ (geneinsam mit Michael Klein-Landeck)
Forschungsschwerpunkte: Reformpädagogische Erziehungs- und Bildungsansätze, Biographieforschung, Zeitzeugenforschung, qualitative Beobachtung, Beratungsansätze, Hochschuldidaktik, strukturale Hermeneutik