40 Jahre Montessori-Vereinigung

von Raymund Dernbach

(Aus: Ludwig, Harald, Fischer, Christian, Fischer, Reinhard (1. April 2002): Montessori-Pädagogik in Deutschland. Rückblick – Aktualität – Zukunftsperspektiven: 40 Jahre Montessori-Vereinigung e.V., Impulse der Reformpädagogik, S. 69ff)

2. von links: Helene Helming

Bis zur Gründung der Montessori-Vereinigung gab es eine Vorgeschichte. 1954 kam der erste internationale Montessori Kurs seit 1923 in Deutschland zustande. Zunächst wurden in Berlin, Essen und Frankfurt in getrennten Gruppen Vorlesungen gehalten. In Essen wurden Vorträge von Mario Montessori vom Band abgespielt und von Helene Helming kommentiert. In den letzten vier Wochen vor der Prüfung kamen die drei Gruppen in Frankfurt zusammen und erhielten jeden Tag Einführungen und Vorträge. Für Lehrer war es sehr schwierig, für die Samstage und erst recht für die letzten Wochen beurlaubt zu werden. Es musste schon Ersatz gestellt werden.

Während der Tage in Frankfurt beschloss eine Gruppe um Frau Helming, eine katholische Arbeitsgemeinschaft für Montessori-Pädagogik zu gründen. Die Lehrer dieser Gruppe waren meist ehemalige Schüller von Frau Helming darunter auch Günter Schulz-Benesch. Unter den Erzieherinnen waren auch einige aus dem ehemaligen Fröbelseminar in Aachen, das Helene Helming bis 1935 leitete. Die Arbeitsgemeinschaft fand ihren Platz in der kurz vorher neu gegründeten Deutschen Montessori Gesellschaft (DMG).

1961 wurden alle Mitglieder dieser Arbeitsgemeinschaft nach Köln eingeladen, um darüber abzustimmen, einen selbständigen Verein zu gründen. Es gab mehrere Gründe für die Verselbständigung.

    1. Die meisten Kindergärten hatten einen kirchlichen Träger. Etliche Erzieherinnen hatten Schwierigkeiten, die Montessori-Arbeit in den Einrichtungen durchzuführen, weil die Pfarrer der Pädagogik misstrauten. Vielleicht wussten sie noch, dass einige Montessori-Lehrerinnen Wiens sich mit den Ideen Freuds anfreundeten und dass eine Berliner Gruppe stark links orientiert war. Das war für Montessori damals ein Grund, sich von diesen Gruppen zu distanzieren. Auf jeden Fall aber war vielen Pfarrern suspekt, kleinen Kindern Freiheit zu Kinder hatten zu gehorchen. Gehorsam und Freiheit vertrugen sich nach ihrer Meinung nicht.

Mit der Gründung eines katholischen Vereins wurden viele Hindernisse beseitigt, und die Montessori-Arbeit konnte Fuß fassen. Zahlreiche Kindergärten stellten ihre Arbeit auf die Montessori-Pädagogik um. Der Bischof von Aachen stellte 24 000 DM zur Verfügung – damals eine große Summe -, die meist für Materialanschaffung verbraucht wurde.

 

    1. Ein weiterer Grund für die Loslösung erwuchs aus den persönlichen Spannungen zwischen den Es gab tiefe Meinungsunterschiede über die Verwirklichung der Montessori-Pädagogik.
    1. Schließlich glaubte man, auf einem gemeinsamen Fundament stehend Montessori-Prinzipien besser umsetzen zu können.

Natürlich gab es Bedenken und Einwände aus Frankfurt, Berlin und Amsterdam. Das führte jedoch nicht zu einer Aufgabe des Plans. Aber von Anfang an wurde betont, weiterhin gute Beziehungen zur DMG aufrecht zu erhalten. Das drückte sich u. a. in Doppelmitgliedschaften aus.

In der Gründungsversammlung gab es ein einstimmiges Votum für den neuen Verein und für die Satzung. Der Name lautete ,,Montessori-Vereinigung für katholische Erziehung“, und so wurde er ins Vereinsregister eingetragen.

1962 erteilte Mario Montessori der Vereinigung die Erlaubnis, Montessori-Kurse durchzuführen, was vertraglich gesichert wurde. Anfangs wurden die Lehrgänge noch als internationale anerkannt. Deshalb erschienen bei den Prüfungen Vertreter der AMI (Association Montessori Internationale).

Für die neuen Kinderhäuser und Schulen ergaben sich große Schwierigkeiten, aus Holland Material zollfrei einzuführen. Der Vorstand wurde beim Kultusministerium und beim Finanzministerium vorstellig und erreichte schließlich, dass bis 300 DM zollfrei Lehrmittel eingeführt werden durften. Das Dumme war nur, dass die Beamten an der Grenze die neue Zollvorschrift nicht kannten. Mit Bescheinigungen und Überredungskünsten gelang dann meist die Einfuhr.

Seit 1963 gibt die Vereinigung den Werkbrief heraus. Schon bald erlangte diese Zeitschrift über unsere Mitglieder hinaus Aufmerksamkeit. Auf Betreiben von Günter Schulz-Benesch bekam der Werkbrief eine ISSN-Nummer und wird seitdem bei der Zentralbücherei in Leipzig, früher Frankfurt, geführt. Nach 30 Jahren wurde der Titel geändert, weil er manche Kreise zu sehr an jugendbewegte Zeiten erinnerte. Der neue Titel lautet „Montessori, Zeitschrift für Montessori Pädagogik“. Heute hat die Zeitschrift eine Auflage von 2200 Exemplaren.
Im Laufe der Jahre erschienen auch einige Beihefte zu besonderen Themen oder von vergriffenen Büchern.

1969 beschloss die Mitgliederversammlung eine Änderung des Namens unserer Vereinigung. Seitdem heißt der Verein „Montessori-Vereinigung“ e.V., Sitz Aachen. Entsprechend geändert wurde auch die Satzung. Es heißt nun bei den Aufgaben des Vereins in §2a: „Die pädagogische Arbeit Maria Montessoris in der Erziehung aus dem Geiste des Evangeliums zu pflegen und zu entwickeln“.

Anlass für die Umbenennung war die veränderte gesellschaftliche Situation. Nach einer neuen Schulgesetzgebung wurden Montessori Angebotsschulen zu Gemeinschaftsschulen. Auch sonst war die Konfessionsschule nicht mehr die Regel. Eine Öffnung für andere Religionen und Gruppen war erforderlich. Mit einer neuen Zusammensetzung der Lehrerschaft war der alte Name nicht mehr zumutbar. Der anthropologische Hintergrund blieb allerdings unverändert.

Auch im Kindergartenbereich traten Veränderungen ein. Neben den kirchlichen Trägern gründeten besonders private Gruppen Montessori-Kinderhäuser.

Die Hauptarbeit der Vereinigung lag und liegt bei den Kursen und den sonstigen Fortbildungsveranstaltungen. In den 40 Jahren wurden 337 Kurse durchgeführt und 10395 Diplome ausgehändigt. Hinter diesen Zahlen steckt eine enorme Arbeit mit vielen Fahrten durch ganz Deutschland und darüber hinaus.

Auf Grund der Kurse wuchs die Zahl unserer Mitglieder ständig. Bei der Gründungsversammlung trugen sich 94 Mitglieder ein. Heute sind es 1180. Diese Zahl bleibt seit einigen Jahren in etwa stabil, da sich Zu- und Abgänge die Waage halten. Der Landesverband Süd hat eine eigene Organisation und nur die Dozenten sind bei uns Mitglied. Heute hat der Verband 350 Mitglieder. Aber nicht nur über die Dozenten ist der Landesverband Süd mit uns verbunden, sondern auch über unsere Zeitschrift, die alle Mitglieder beziehen. Auch die Deutschschweiz bezieht unsere Zeitschrift und ist so mit uns in Kontakt.

Die jährlichen Fortbildungstagungen fanden ständig zunehmendes Interesse. Immer größere Häuser mussten gesucht werden, bis auch in Bensberg das Ende der Kapazität bei 400 Teilnehmern erreicht war. Deshalb müssen jedes Jahr Absagen erteilt werden. Anfangs lag die Organisation noch in unseren Händen, wobei sich Diete Meurer besonders einsetzte und bewährte. In Bensberg übernahm dann das eingespielte Team der Thomas-Morus-Akademie die gesamte Organisation. Das Programm wird weiter von der Vereinigung in Zusammenarbeit mit der Thomas-Morus-Akademie gestaltet.

Seit drei Jahren werden die Vorträge und die Ergebnisse der Arbeitsgemeinschaften in Tagungsbänden veröffentlicht.

Es würde den Rahmen sprengen, über alle Tagungen zu berichten. Jeder wird einen anderen Vortrag oder eine Arbeitsgemeinschaft als bedeutsam empfunden haben, aber einige sollen doch herausgehoben werden. In den ersten Jahren der Vereinigung wurden die Tagungen gemeinsam mit dem Düsseldorfer Kreis durchgeführt. Von den damaligen Referenten seien genannt: Sofia Cavalletti (Rom), Lubienska de Lenval (Genf), Pierre Faure S.J. (Paris), Rosi Joosten­ Chotzen (Amsterdam), Hermann Jordans (Utrecht).

Aus späteren Tagungen seien erwähnt:

1980 – in Aachen begeisterte uns Hugo Kückelhaus mit Theorie und Praxis seiner Spiele.

1982 – in Walberberg sprach der Philosoph Josef Pieper über das immer akute Thema: Der Verderb des Wortes und die Macht. Bei der gleichen Tagung las Willi Fährmann aus seinen Werken.

1986 – in Bendorf beeindruckten bei dem Thema religiöse Erziehung Sofia Cavalletti, Hubertus Halbfas und Gisela Stock (Schattenspiele).

1994 – in Bensberg hatte Christoph Goldmann großen Erfolg mit seinem Vortrag und seiner Arbeitsgemeinschaft über Chagall.

Großen Anklang fanden auch die Exkursionen in den Bereichen Biologie, Geologie und Kunstgeschichte (Romanische Kirchen).

In der Zeit, als Helene Helming die Vereinigung führte, wurden alle Entscheidungen im Vorstand getroffen. Weil aber die Arbeit ständig wuchs, delegierte der Vorstand einige Aufgaben.

1975 – wurde ein ständiges Reaktionsteam berufen, das alle Aufgaben erfüllte, die mit unserer Zeitschrift verbunden sind. Bei einem Schriftleiter laufen alle Fäden zusammen.

1972 – wird die Vorstandsarbeit von der Lehrgangstätigkeit getrennt.

1974 – wird zum ersten Mal ein Vorsitzender der Dozentenkonferenz gewählt. Er hat Sitz und Stimme im Vorstand.

Die Dozentenkonferenz befasst sich mit Berufungen von Dozenten, bespricht Fragen der Erwachsenenbildung und der Materialbücher, sie bemüht sich um die Fortbildung der Dozenten, bespricht Prüfungsfragen und Hospitationen sowie neue Materialien.
Innerhalb der Dozentenkonferenz gibt es seit 1990 ein Organisationsteam, das Kurse genehmigt und die Vertreter der Vereinigung bei Prüfungen benennt.

Wegen der großen Entfernung wurde als Zweigstelle eine Dozentenkonferenz Süd eingerichtet, in der gleiche Aufgaben erfüllt werden.

Im Folgenden werden nur die wichtigsten Daten aus der Vereinsgeschichte erwähnt. Zunächst die Vorsitzenden:

von 1961 – 1969 Professor Helene Helming, Ahaus,

von 1969 – 1971 Oberstudiendirektor Hans Pabst, Erkelenz,

von 1971 – 1974 Professor Dr. Karl Neise, Köln,

von 1974 – 1983 Professor Dr. Paul Oswald, Münster,

von 1983 – 1988 Professor Dr. Karl Neise, Köln,

von 1988 – 1997 Oberstudiendirektor Peter Ortling, Krefeld,

seit 1997 Lehrerin Ortrud Wichmann, Bonn.

Weitere Daten:

1969 regte Klaus Rutenberg an, die Montessori-Arbeit in den Eingangsstufen des Gymnasiums zu organisieren.

1970 gab es eine Diskussion über den Zusammenschluss aller Montessori-Vereine. Daraus ging die ADMV (Aktionsgemeinschaft Deutscher Montessori-Vereine) hervor.

1977 wurde die Einrichtung von Kursen für die Sekundarstufe beschlossen. Die Teilnehmer erhalten ein Zertifikat.

1983 wird die Vereinigung affiliiertes Mitglied der AMI. Auf Grund geänderter Statuten der AMI war diese Neuregelung erforderlich.

1986 werden die Materialbücher 1 -3 herausgegeben. Eine lange intensive Vorarbeit mit vielen Zusammenkünften fand damit ihren Abschluss.

1986 trafen sich in Köln deutsche und niederländische Wissenschaftler, die mit Forschung über Montessori befasst waren, zu einem Gedankenaustausch.

1987 gab sich die Dozentenkonferenz eine neue Lehrgangsordnung. Im Bedarfsfall wurde sie neuen Erfordernissen angepasst.

I989 regte die Vereinigung die Übersetzung einer Schrift über religioöse Erziehung an, die von dem späteren Kardinal Tomasek von Prag verfasst wurde. Die Broschüre wurde zusammen mit der Ackermanngemeinde herausgegeben.

1993 erhält die Vereinigung die Erlaubnis, auch im benachbarten Ausland Kurse durchzuführen, wenn das Land selbst keine eigenen Kräfte hat.

1994 erteilt die Niederländische Montessori-Gesellschaft die Erlaubnis, das Geometriebuch zu übersetzen.

1996 Die Standards der Kurse von der DMG und der Vereinigung werden angeglichen.

1999 In Bonn beginnt ein affiliierter Kurs mit der AMI. Er wird 2000 abgeschlossen.

2000 Die Vereinigung hat für Deutschland das Markenrecht auf den Namen „Montessori“ erworben.

Nicht ganz zu trennen von der Tätigkeit der Montessori-Vereinigung ist die Arbeit einzelner Personen, Schulen und Ortsvereine in den jeweiligen Orten. Sie organisieren Veranstaltungen, geben Festzeitschriften heraus, schreiben Bücher und Artikel, sind beteiligt an Treffen und Modellversuchen. Dennoch ist ihre Arbeit ohne die Vorarbeit und ohne den Hintergrund der Montessori-Vereinigung nicht denkbar. Viele sind Mitglied der Vereinigung und als Dozent oder Funktionsträger tätig. Diese enge Kooperation gilt z.B. auch für das wissenschaftliche Montessori-zentrum am Institut für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik der Universität Münster.

Von Anfang an pflegte die Vereinigung gute Beziehungen zur AMI. Paul Oswald, Günter Schulz-Benesch und Alfons Schaffrath waren dort in international besetzten Gremien tätig. Besonders gute Beziehungen hatte Schulz-Benesch zur Familie Montessori, was seinen Forschungen im Nachlass Maria Montessoris zugute kam.

Wie weit die Arbeit unserer Mitglieder das pädagogische Denken in Deutschland und darüber hinaus beeinflusst hat, wissen wir im Einzelnen nicht. Tatsache aber ist, dass die Schulgesetze einiger Bundesländer – z. B. in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg – nachweislich Ideen Montessoris enthalten, was durch beharrliche Arbeit an der Basis erreicht wurde.

Über die Bundesrepublik hinaus wurde beim Aufbau von Montessori-Einrichtungen, bzw. durch Ausbildung von Lehrkräften in Österreich, der Schweiz, Polen und Japan Hilfestellung geleistet. Neue Kontakte wurden mit Russland, der Ukraine, Estland und Lettland sowie der Tschechischen Republik geknüpft. An unseren Kursen in Deutschland nahmen immer wieder Teilnehmer aus verschiedenen Ländern teil, z. B. aus Schweden, Finnland, Ungarn, Frankreich, Korea, aus dem Iran und aus der Türkei.

Wir hoffen, dass sie in ihren Heimatländern die Ideen Montessoris verbreiten können.

Raymund Dernbach (10. Oktober 1928, † 25. Januar 2022)

Raymund Dernbach war 1960 am Wiederaufbau der Montessori-Vereinigung maßgeblich beteiligt. Von 1975 – 1990 war er Schulleiter der Montessori-Grundschule im Montessori-Zentrum Rochusstraße in Köln. Er war der erste Geschäftsführer der Montessori-Vereinigung. Jahrzehnte lang war er Lehrgangsleitung der Diplom-Kurse in Köln und Dozent in den Bereichen Theorie, Sprache und Kosmische Erziehung.