
Zur Vorgeschichte der Montessori-Vereinigung
von Hans Elsner
(Aus: Ludwig, Harald, Fischer, Christian, Fischer, Reinhard (1. April 2002): Montessori-Pädagogik in Deutschland. Rückblick – Aktualität – Zukunftsperspektiven: 40 Jahre Montessori-Vereinigung e.V., Impulse der Reformpädagogik, S. 64ff)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Auf den ersten Blick wird Ihnen schon aufgefallen sein, dass wir hier oben auf dem Podium nicht mehr so ganz jung sind. Die Bewandtnis dieses Augenscheins findet sich in der Tatsache, dass wir bei der Gründung dieser Vereinigung vor 40 Jahren dabei waren. Wir wurden gebeten, von der Vergangenheit und von den Anfängen der Montessori-Vereinigung zu berichten. Mir ist es zugefallen, den Anfang zu machen und zunächst auf eine Besonderheit hinzuweisen.
Wenn heute ein 40jähriges Bestehen gefeiert wird, dann bezieht sich das nur auf die datenmäßige Anmeldung im Vereinsregister. Für die Montessori-Vereinigung gibt es so etwas wie eine vorgeburtliche Entwicklungszeit. Mit dieser Phase will ich anfangen. Andere Abschnitte aus dem Lebenslauf der Vereinigung übernehmen die Freunde neben mir.
Die Wurzeln der Montessori-Vereinigung – so sehe ich es – liegen in der Zeit direkt nach dem zweiten Weltkrieg. Nicht nur Wohnhäuser, Straßen, Schulen und Kirchen liegen in Trümmern und wollen wieder aufgebaut werden, sondern das gesamte geistige Leben liegt am Boden und Wartet auf Erneuerung. Das Ganze Schulwesen, zum Beispiel, muss bei Null anfangen.
Wir Studenten von damals sahen in diesem Neuanfang unsere Chance. Eine andere Schule musste her. Es gab sicherlich überall Studenten der Pädagogik, die genau das wollten. Was für ein Glück für eine Handvoll von ihnen, dass sie an der Pädagogischen Akademie auf einige Dozenten trafen, die es mit ihnen wollten. Da war zum Beispiel die Direktorin Helene Helming. Sie hatte in Rom bei Maria Montessori noch ihr Montessori-Diplom erworben, wurde aber an der praktischen Ausübung von den Nationalsozialisten gehindert und mit Berufsverbot bestraft. Die englische Besatzungsbehörde betraute sie direkt nach dem Krieg mit der Leitung der Akademie. Alle, die dort studierten, erfuhren durch sie zum ersten mal etwas von der Montessori-Pädagogik.
Schon durch das Kennenlernen dieser ganz anderen, ganz neuen Pädagogik wurde die Akademie zu dem Ort, an dem die Voraussetzungen für den neuen Weg stimmten. Wer den neuen Weg gehen wollte, der konnte ihn hier finden. Dafür gab es drei Voraussetzungen.
Erstens: Die Zeit verlangte nach Erneuerung. Die alte Schule musste abgelöst werden. Wir wollten Erziehung ohne Ideologie.
Zweitens: Die jungen Menschen, die dem nationalistischen Gedankengut widerstanden hatten, fanden dort zusammen.
Drittens: Es gab Lehrer dort, die den neuen Geist vermitteln und den neuen Weg aufzeigen konnten.
Das Studium der Philosophie befreite das Denken von Enge und Angst. Die Öffnung hin zur internationalen Literatur 8bis dahin kannten wir nur die Zensur) verlangte geistige Großzügigkeit. Das Studium der Pädagogik, insbesondere der Montessori-Pädagogik, veränderte das Bild vom Menschen, von Gesetz und Freiheit. Die Hinführung zur Kunst, zur Gestaltung, zum Bild und zur Musik führte zu neuen Maßstäben.
In diesem Zusammenhang möchte ich hier einige Namen von Frauen und Männern nennen, die auch über das Studium hinaus (4 Semester) die direkte praktische Arbeit der jungen Lehrerinnen und Lehrer wie selbstverständlich und freundschaftlich jahrelang begleitet haben: Helene Helming, Katharina Fischer, Maria Lücke, Johann Rasche, Josef Pieper, Alois Reiermann. Zwei Jahre Studium war als Zeitmaß klein, aber als Erlebnis für die Aufbruchstimmung groß.
Dadurch, dass wir insgesamt nur jeweils 200 Studenten gleichzeitig die Akademie besuchten, war das Kennenlernen untereinander leicht. Schon während des Studiums fanden sich alle die zusammen, die mit dem neuen Weg in der Praxis ernst machen wollten. Es war für uns nicht nur selbstverständlich, sondern auch notwendig, dass wir nach dem Examen in irgendeiner Weise Kontakt halten wollten. Notwendig war das schon deswegen, weil wir als Junglehrerinnen und Junglehrer über ganz Nordrhein-Westfalen verstreut einzelnen Schulen zugewiesen wurden und dort sehr bald zum Einzelkämpfer wurden. Wer sollte denn in dieser Hungerzeit sich mit unerfahrenen Neulingen auf einen neuen Unterricht einlassen? Es war klar, wir standen jeder für sich, überall allein.
Das war Grund genug für uns, gemeinsame Treffen zu organisieren. Regelmäßig fanden sie in Düsseldorf statt. Zuerst war es die Wohnung von Günter Schulz, wo wir uns versammelten zum Reden, zum Arbeiten, zum Planen. Dann aber, weil immer mehr kamen, musste der bekannte Schlossturm am Rhein herhalten. Erst nach Schulschluss am Samstag konnten wir von zu Hause los. Geblieben sind wir bis Sonntagnachmittag. Für die Nacht hatten wir Luftmatratzen dabei.
Nicht nur, weil Düsseldorf gut zu erreichen war, trafen wir uns dort. Günter Schulz hatte als erster mit dem neuen Weg, dem neuen Unterricht in einer Düsseldorfer Volksschule begonnen. Wir nannten es zunächst „Auflockerung des Unterrichts“. Gemeint war das, was mir später mit „Freiarbeit“ bezeichnen. Uns ging es immer um die Praxis. Wir wollten so nahe dabei sein, wie eben möglich.
Unser Entschluss stand fest. Der Klassenraum musste anders gestaltet sein. Weg von Bankreihen, weg von reih und Glied, nicht der Lehrer sollte Mittelpunkt sein. Arbeitsmittel für die Hand des Kindes mussten hergestellt werden, mussten erfunden werden, geprüft, ausgetauscht, verbessert werden. Heute weiß jeder, was unter Vorbereiteter Umgebung zu verstehen ist. Damals mussten wir das, Schritt für Schritt, Stuhl für Stuhl lernen. Das Wichtigste für den neuen Weg war die freie Arbeitswahl. Wer hatte bis dahin für möglich gehalten, dass Kinder in der Schule freiwillig arbeiten, lernen? Wir glaubten daran, und bald wussten wir es. Die Freiarbeit ist die beste Form für wirkliches Lernen.
Es war die Zeit um 1950, 10 Jahre vor der Gründung der Montessori-Vereinigung, 5 Jahre nach Kriegsende. Es gab schon wieder Regierungen, Schulärzte und Kultusminister. Aber genug Klassenraum, genug Lehrer, genug Stühle, ausreichend Papier, Lernmaterial gab es noch lange nicht. Wie wir es dennoch schafften, die Umgebung in den Klassen vorzubereiten, war nur durch ein Gemeinschaftswerk möglich. Trafen wir uns im Schlossturm, so arbeiteten wir alle miteinander und füreinander. Nie arbeitete einer nur für sich. Die Schwierigkeit in der damaligen Zeit Rohmaterial wie Holz, Pappe, Papier, Tusche, Leim zu besorgen, lässt sich heute nur schwer vorstellen. Und trotzdem war der Wandel in den Schulen nicht aufzuhalten. Schwierigkeiten und Widerstand blieben natürlich nicht aus. Für die einen waren wir so etwas wie eine Oase, für die anderen waren wir eine störende Unterbrechung der Wüstenlandschaft Schule.
Eine ungewollte Hilfe für unsere Sachen erhielten wir durch die damalige Kultusministerin von Nordrhein Westfalen. Sie hatte durch Erlass die Methodenfreiheit erlaubt. Alles, was wir anders, als üblich war, machten, nannten wir sofort Methode. Wurde misstrauisch nachgefragt oder sogar überprüft, verstärkten wir die Antwort und nannten sie Montessori-Methode. Da um 1950 herum die Montessori-Methode sowohl in den Schulen als auch in der Schulverwaltung so gut wie unbekannt war, verschaffte uns das eine Art pädagogischen Freiraum. Niemand wollte zugeben, unwissend zu sein, war es doch schon schwer genug, das Wort zu schreiben.
Wir wussten schon, was das war, und wir wussten auch, dass unsere Arbeit nur erste Ähnlichkeiten mit Montessori hatte. Der Kreis, der sich in Düsseldorf regelmäßig traf, war mittlerweile offiziell als Düsseldorfer Kreis e.V. eingetragen. Wir hatten ein eigenes Mitteilungsblatt, zahlten Beitrag und hatten einen Vorsitzenden – selbstverständlich Günter Schulz.
Vielleicht ist bis hierhin schon deutlich geworden, dass die „Auflockerung des Unterrichts“, wie wir sie praktizierten, doch noch keine Montessori-Pädagogik war. Arbeits- und Lernmaterial herstellen, das ein individuelles Arbeiten ermöglicht und eine kindgemäße Umgebung zubereitet, hilft auf dem Weg in die richtige Richtung, kann aber nur ein Anfang sein. Dennoch, der neue Weg führte auf eine überzeugende Weise zu ganz anderem Lernerfolg. Wir fühlten uns groß. Wir hatten die Liebe der Kinder zum Lernen entdeckt.
Gleichzeitig während die Lehrerinnen und Lehrer im Düsseldorfer Kreis Jahr für Jahr ihre Arbeit in den Klassen auf Freiarbeit umstellten (oft gegen große Widerstände), wurden in Essen-Dilldorf in der Nähe der Pädagogischen Akademie, Montessori-Klassen eingerichtet. Frau Katharina Fischer, eine Lehrerin mit Montessori-Diplom und Montessori-Praxis, sollte Leiterin der Schule werden. (Sie wurde es nie, weil es der Schulverwaltung entschieden zu weit gegangen wäre, eine ganze Volksschule zu verändern.) Die Studenten hatten durch Frau Fischer die Möglichkeit, während des Studiums in Seminaren Montessori-Material kennen zu lernen und in der Schule die Praxis zu beobachten. Ich selber habe bei ihr die metallenen Einsatzfiguren kennen gelernt. Ich erinnere mich sehr gut an das „So-ganz-Andere“ bei dieser Beobachtung. Ich war überrascht von der Einfachheit dieser Übung und gleichzeitig skeptisch gegenüber dem Nutzen für das schulische Lernen. Es war für einen aus Gefangenschaft heimgekehrten Kriegsteilnehmer vielleicht noch zu schwer, indirektes Lernen zu verstehen. Doch kennen lernen wollte ich damals schon alles von dieser Pädagogik. Und wer das einmal ernsthaft wollte, den hat es nie mehr losgelassen. Die erste Montessori-Praxis nach dem Krieg war in Essen-Dilldorf bei Katharina Fischer zu beobachten mit ihren Mitarbeitern Paul Drücke, Heinrich Schaffmeister, Luise Henkelmann, Gertrud Cinzzen.
Ich verstand sie, diese Pädagogik, und ich verstand sie doch nicht. Das, was wir im Düsseldorfer Kreis entwickelten, war mir leichter. Heute weiß ich, dass wir nicht etwas ganz anderes machten, aber etwas weniger. Der Düsseldorfer Kreis hatte die Möglichkeiten gesucht und gefunden, zu denen wir damals bereit waren, bereit sein konnten.
Als 1954 der erste Montessori-Diplom-Lehrgang nach dem Krieg in Deutschland stattfand, war für alle aus dem Düsseldorfer Kreis, dies es ermöglichen konnten, die Teilnahme selbstverständlich. Dieser Diplom-Lehrgang kam zur rechten Zeit. Wir erlebten das, was immer und überall in Montessori-Lehrgängen erlebt werden kann. Die Arbeitsmittel für die Hand des Kindes müssen eine Hilfe sein für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Das Montessori-Material ist ein Entwicklungsmaterial. Diese wichtige Entdeckung musste Auswirkungen auf unsere zukünftige Arbeit haben, zum Beispiel das Lehrerverhalten wurde noch zurückhaltender. Es forderte eine Arbeitsmittelprüfung und –beschränkung. Die Sensitiven Phasen rückten in den Mittelpunkt. Das auf überprüfbares Ergebnis ausgerichtete Denken verlor seine Bedeutung. Besondere Aufmerksamkeit richtete sich darauf, wie die Kinder arbeiten.
Waren die Veränderungen des Unterrichts und des Lernens durch den Düsseldorfer Kreis noch sehr von den eigenen Ideen des einzelnen geprägt, so trat jetzt immer mehr an deren Stelle die Orientierung am Kind. Es war eine Frage der Zeit, wann sich der Kreis auflöste. Dieser Schritt mag auf den ersten Blick wie eine logische Folgerung erscheinen. Hier wird jedoch eine Lehrerhaltung deutlich, die nicht selbstverständlich ist. Wo finden wir im Schulgeschehen einen freiwilligen Wechsel von einer richtigen Pädagogik zu einer anderen richtigen Pädagogik, wenn diese die bessere ist?
Wenn ich von heute aus zurückblickend auf die Entwicklung der Montessori-Pädagogik und der Montessori-Schulen schaue, dann erkenne ich immer das gleich Bild. Dort, wo die Ablösung vom Beschäftigungsmaterial, vom eigenen Menschenbild und Unterrichtsideen, von Gleichschaltung und Richtlinienangst nicht stattfindet, dort bleibt alles nur eine halbe Sache. Maria Montessori hat sich nie ihrer Ideen gerühmt, sie hat immer nur von Entdeckungen gesprochen. Wer versucht, sie zu verbessern, bleibt auf der Strecke, wie gesagt, auf dem halben Weg.
Der Düsseldorfer Kreis hat seinen Weg in den Weg des Kindes einmünden lassen. Es war für die Vereinigung eine Vorgeschichte, aber eine notwendige.
Hans Elsner (* 22.Februar 1923, † 9.Dezember 2021)
Hans Elsner war 1961 maßgeblich am Wiederaufbau der Montessori-Vereinigung beteiligt. 1956 gründete er die erste Montessori-Grundschule in der Gilbachstraße in Köln und leitete sie 31 Jahre lang. Hans Elsner gehörte nach dem zweiten Weltkrieg zu den Montessori-Pädagogen der ersten Stunde. Seine poetischen Texte finden sich neben seinen Tuschezeichnungen in der roten Reihe (Hefte zur Geschichte für Kinder), die er mit Hildegard Amelunxen gestaltet hat.